"Junge Aphasie" Interview
Interview mit Eva Sieve, Gruppensprecherin der Selbsthilfegruppe "Junge Aphasie"
Frau Eva Sieve ist 44 Jahre alt. Vor 14 Jahren hat sie durch einen Unfall ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten mit der Folge einer Erkrankung an Aphasie.
Aphasie bedeutet wörtlich übersetzt, dass man ohne Sprache ist. Der Verlust des Sprachvermögens, die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen sowie eine Verwechslung von Wörtern kann die Folge einer Erkrankung an Aphasie sein.
Eine Aphasie kann entstehen durch einen Schlaganfall (80 %), ein Schädel-Hirn-Trauma (10 %) oder einen Hirntumor (7%)1.
Seit 2015 leitet Frau Sieve die Selbsthilfegruppe "Junge Aphasie" und bietet zusätzlich im Aphasie-Zentrum Vechta eine Kreativgruppe für Betroffene an.
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1 Quelle: https://ahasiker.de/apahsie/ [Abruf: 14.09.2020]
Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe: Eva, wie erklärst du Menschen, die nicht an Aphasie erkrankt sind, was Aphasie ist?
Genau erklären kann ich das gar nicht.
Was bedeutet es denn für dich?
Es war schlimm, man hatte einfach nichts mehr im Kopf, ich konnte nichts mehr aussprechen. Vom Gedächtnis her! Mir ist nichts mehr eingefallen. Ich konnte mich nicht mehr ausdrücken.
Wie muss man sich das vorstellen? Hattest du die Wörter im Kopf, aber sie kamen nicht raus?
Genau! Das war sehr schlimm! Ich bin sehr schlecht drauf gewesen in dieser Zeit. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte es nicht. Das war sehr frustrierend und ich hatte sehr schlechte Laune. Das geht aber allen so.
Ist es denn auch passiert, dass du dann falsche Wörter benutzt hast?
Das passiert ganz oft, auch heute passiert mir das noch ab und zu. Erst kürzlich! Ich habe mit einem anderen Patienten im Garten des Aphasie-Zentrums gestanden und plötzlich ist ein Tier über den Weg gelaufen. Ich habe dann gerufen: "Guck mal, total süß, da ist ein Meerschweinchen!" und er hat mich nur fragend angesehen. Dann musste ich überlegen "wie heißt das Tier richtig?" Es ist ein Eichhörnchen gewesen. Wir beide haben sehr gelacht. Eigentlich wusste ich, welches Tier es ist, aber ich habe nicht das richtige Wort gefunden.
Das passiert Aphasikern aber sehr häufig?
Ja, das kommt immer wieder vor.
An Aphasie erkrankt zu sein ist eine besondere Situation. Wie hat sich dein Leben verändert?
Komplett eigentlich! Zu Beginn konnte ich mich an gar nichts mehr erinnern. Auch jetzt fällt mir ganz viel noch immer nicht ein. Es fällt mit noch immer schwer, mir Dinge zu merken. Gespräche über "Gott und die Welt", das fällt mir heute nicht mehr schwer, aber bei anderen Dingen ist es schwieriger. Zum Beispiel am Telefon! Ich bin da nervös, weil mir das nicht so leichtfällt. Wenn ich irgendwo anrufen muss, schreibe ich mir vor dem Telefonat Notizen auf. Bei sehr wichtigen Dingen bin ich froh, dass ich meinen Mann Michael an meiner Seite habe.
Für dein Gegenüber ist es auch schwierig zu erkennen, dass du an Aphasie erkrankt bist. Wenn man dich so kennenlernt, als selbstbewusste Frau, ahnt man nicht, was du hinter dir hast und wie du dich ins Leben zurück gekämpft hast. Wie lange ist dein Unfall her?
Das ist jetzt 14 Jahre her. Die ersten Jahre - das war alles eine Katastrophe. Aber so nach und nach habe ich mich ins Leben zurück gekämpft und darauf bin ich richtig stolz.
Ja, da kannst du auch stolz drauf sein. Und zusätzlich gibst du den anderen Menschen, die als Patienten zum Teil direkt nach der Behandlung und nach Klinikaufenthalten in das Aphasie-Zentrum kommen Mut und Kraft. Du bist da ein tolles Beispiel, dass es auch wieder gut werden kann.
Ja, das stimmt! Mit den anderen Patienten kann ich mich immer super unterhalten. Es ist da egal ob mir oder den Patienten gerade die passenden Wörter nicht einfallen. Das ist für beide Seiten sehr entspannt und mitunter ganz lustig, wenn beide nicht die passenden Wörter finden.
Was wünschst du dir von anderen Menschen, die deine Geschichte nicht kennen, im Umgang mit dir?
Also, ich würde ganz ehrlich bereits vorher erzählen, was mir passiert ist. Wenn ich offen mit meiner Geschichte umgehe, können die anderen Menschen verstehen, wenn mir im Gespräch die Worte fehlen oder Sachen nicht einfallen. Bislang sind dann alle immer sehr nett zu mir und nehmen Rücksicht.
Du bist die Gruppensprecherin von der Selbsthilfegruppe "Junge Aphasie" hier im Landkreis Vechta, die sich einmal im Monat im Aphasie-Zentrum trifft. Was bedeutet diese Arbeit in der Selbsthilfegruppe für dich?
Das ist immer ganz nett. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt aber auch über Probleme. Vor allem, wenn es jemandem schlecht geht. Wir tauschen uns über alles aus, auch wenn das reden nicht geht. Irgendwie bekommen wir das hin. Die Gruppe ist auch offen für die Patienten die sich im Aphasie-Zentrum in der Intensivtherapie befinden und wir stellen fest, dass wir uns auch mit diesen Menschen gut verstehen. Toll ist, dass wir den Patienten Mut machen können.
Wie hast du dir denn damals selbst Mut gemacht?
Ich eigentlich damals gar nicht. Meine Familie hat mir damals auf die Füße getreten und mich gedrängt. Mein Mann Michael hat sich erkundigt, was ich machen kann. So sind wir auf das Aphasie-Zentrum gekommen. Ich bin mit dem Taxi morgens dorthin gefahren und abends wieder zurück. Da ich rechts gelähmt gewesen bin habe ich neben Sprachtherapie auch Physio- und Ergotherapie gehabt. Ich musste ganz viel mit rechts üben. Wenn ich Phasen hatte, wo ich nicht mehr wollte, hat meine Familie mich aufgefordert weiter zu üben. Ich bin zwischendurch so verzweifelt und deprimiert gewesen. Aber auch für meinen Mann ist es zu Beginn schlimm gewesen. Als ich im Krankenhaus gelegen habe konnte ich gar nicht mehr sprechen. Ich wusste gar nichts mehr. Familie: keine Ahnung! Ich habe keinen mehr erkannt. Meine Eltern, meinen Mann und auch meine Tochter nicht. Ich wusste gar nicht wer das ist. Das einzige, was ich wusste, war, dass dieser Mann jeden Tag da ist und ich dachte, das ist ja ein netter Mann. Michael hat eine große Pinnwand in meinem Krankenzimmer aufgestellt und dort ganz viele Fotos angepinnt. Alles Familienfotos. Die habe ich mir jeden Tag angesehen und irgendwann kamen wieder Erinnerungen. Das hat mich sehr unterstützt. Man muss immer irgendwie alles wiedersehen, irgendwann fällt einem das dann ein. So ist es auch beim Sprechen. Bei Sachen wo ich nie dran denke, die ich nie aussprechen kann, das fällt mir auch nicht ein, wenn ich darüber spreche. Es ist wichtig, da eine Routine in den Wörtern zu entwickeln, indem man sie benutzt. Auch bei den Themen. Man muss immer weiter lernen. Das ist bei der Erkrankung leider so. Man muss immer weiter üben.
Was ich jetzt heraus höre ist, dass die Unterstützung von der Familie und deinem Partner sehr wichtig für dich gewesen ist?
Ja das stimmt. Für diejenigen, die keine Familie haben ist es wichtig, sich Therapien zu suchen oder Gruppen, die einen unterstützen. Wichtig ist, dass man nicht alleine mit der Situation ist.
Zum Beispiel in Form einer Selbsthilfegruppe?
Ja! In unserer Gruppe haben Neue zu Beginn immer etwas Angst. Wir sagen dann immer, dass es nicht schlimm ist, wenn das Sprechen noch nicht so klappt. Einfach zuhören ist auch okay. Wenn jemand etwas sagen möchte, dann ist die Gruppe ruhig, damit derjenige, der Reden möchte, sich in Ruhe konzentrieren kann. Es ist egal, wie lange es dauert, bis man etwas heraus bekommt, wir in der Selbsthilfegruppe sind da sehr geduldig. Bei meinen Freundinnen zum Beispiel bin ich die Person die am wenigsten spricht und eher zuhört. Meine Freundinnen sprechen viel und schnell. So viel habe ich gar nicht zu erzählen.
Ist das der Unterschied? In deiner Selbsthilfegruppe sind alle an einer Aphasie erkrankt, also alles Gleichbetroffene?
Ja. In der Gruppe fühlt man sich selbständig und super. Da ist es gar nicht schlimm, wenn einem die Wörter fehlen. Mitunter ist es sogar ganz lustig, wenn einem ein Wort fehlt und den anderen fällt es auch nicht ein. Wir überlegen gemeinsam. Wir überlegen und überlegen, bis es einem von uns einfällt. Wir alle sind da gleich!
Das Ganze ist ja dann auch in dem geschützten Rahmen der Selbsthilfegruppe.
Ja, genau. Wir sind uns alle sehr vertraut. Jeder kann sich öffnen und sich trauen, etwas zu erzählen. Das Sprechen wird auch bei allen in der Gruppe besser. Es macht richtig Spaß, wenn man die kleinen Fortschritte sieht.
Was würdest du Menschen aus heutiger Sicht sagen, denen Vergleichbares passiert?
Ich würde auf jeden Fall sagen es ist wichtig so viel zu lernen, wie es geht. Wenn die Patienten keine Lust mehr haben ist es wichtig zu sagen: Bitte mach weiter! Egal ob es langsame oder schnelle Fortschritte gibt, es kommt immer eine Verbesserung. Und man muss sich Unterstützung suchen. Das ist ganz wichtig. Wenn man keine Familie hat, dann kann man Unterstützung und Halt durch die Gruppe bekommen.
Ist es eine andere Situation, wenn du sagst, dass Verbesserungen kommen als wenn Ärzte, Psychologen oder Sprachtherapeuten sagen, dass mit viel Arbeit und Training das Sprechen wieder besser werden kann?
Ja, im Prinzip schon. In der Selbsthilfegruppe und bei dem Kreativangebot. Es kommt immer mehr auf das miteinander reden an, mehr noch als andere Sachen wie basteln oder malen. Im Vordergrund steht der Austausch. Es ist bei der Kreativgruppe auch egal, wenn da einer nur Kaffee trinkt. Hauptsache ist, dass er dabei ist. Wir genießen die Gemeinschaft. Das ist besser als alleine zu sein. Wenn jemand reden möchte unterstütze ich das. Auch bei den Patienten vom Aphasie-Zentrum. Wenn die auf dem Flur stehen und auf ihre Therapie warten, lade ich sie dazu ein dazu zu kommen. Wir sind ja quasi alle Patienten. Alle fühlen sich in diesem Austausch recht sicher.
Eva, wir danken dir für das ausführliche und informative Gespräch!
Das Gespräch wurde am 18.09.2020 zwischen den Mitarbeiterinnen Kerstin Willenbrink und Bettina Rühlmann der Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe vom Landes-Caritasverband für Oldenburg e.V. und Eva Sieve geführt.